Nicht Dich bewundern.“
R. Char
Hochstapelei fängt unscheinbar an, kaum bemerkt und mit langer Latenz, z.B. bei der Sprache. Es begann mit Berufsbezeichnungen, die durch „Plastikwörter“ regelrecht aufgepeppt wurden, obwohl sich an den eigentlichen Aufgaben nichts geändert hatte; denn im Back Office (Hinterzimmer) wird immer noch jeder einzelne Handgriff getätigt, zu dem sich der Chef zu fein ist und ein Key Account Manager ist eben auch nicht mehr als ein einfacher Verkäufer, der Klinken putzt. Ebenso wird die Hausmeistertätigkeit nicht allein dadurch besser, weil sie jetzt ‚Facility Management‘ heißt. Bei den Start-Ups wird im ‚Wording‘ noch eine Schippe drauf gelegt. Niemand ist mehr in einem normalen Arbeitsverhältnis, sondern ein ‚Creative Director‘ und darf sich seine Ausbeutung zum Hungerlohn mit begrifflich ausgeschmückten Bezeichnungen am kunterbunten Kickertisch mit einem veganen Chai Latte versüßen - voll ‚intrinsisch motiviert‘ versteht sich. So ‚faken‘ wir alle mit in und an dieser aufgesetzten Leistungsgesellschaft und feiern den schrulligen IT-Nerd schon als zukünftigen CDO (‚Chief Digital Officer‘) …
Die Hochstapelei geht weiter mit Selbstvermarktungssprüchen, die jedem guten Mentalcoach die Schamesröte ins Gesicht treiben. Aber auch die eigene Ich-AG ist in der postfaktischen Arbeitswelt angekommen und optimiert sich, wo sie geht und steht. Da werden monstermäßige Berufe versprochen, die sich dann hinter der PR-Fassade als stinknormale 9-to-5-Jobs erweisen („spannende Challenges, abwechslungsreiche Tätigkeit: be agile“). Es wird auch vor dem einen oder anderen geistigen oder körperlichen Doping durch diverse ‚Enhancements‘ nicht Halt gemacht, um marktförmig im Hamsterrad weiter produktiv sein zu können. Und schließlich ist da noch die Rhetorik der Werbung, die sich nicht entblödet auch noch die tiefsten Niederungen der Sinnsprüche aus Poesiealben auszuloten, um ihre Produkte an uns Konsumierende zu bringen. Einfache Baumärkte entfalten sich zum Paradies der Selbstgestaltung. Parfums prägen ganze Lebensstile (‚Innovate, don’t imitate!‘) und schnödes Bier bietet einen inneren Kompass für den Weg ins eigene Glück. Und warum zu „Vive le moment“ geraucht werden muss, erschließt sich nicht. Diese Sprache der ständigen Übertreibung nervt: nichts darf mehr einfach und schlicht sein, sondern ist fokussiert und auf das Wesentliche verdichtet, von einer ganz eigenen Intensität. Merken wir überhaupt noch, was wir da verbal von uns geben?
Nun kommt der Einwand, dass wir alle klug genug sind, die leeren Versprechungen der Werbung zu durchschauen und uns als kritische Konsumenten eine eigene Meinung bilden können. Weit gefehlt! Die Wirklichkeit sieht anders aus. Auf der richtigen Suche nach uns selbst, sind wir offensichtlich mehrfach falsch abgebogen und in einer paradoxen, gesellschaftlichen Situation gelandet, die - wie Luhmann richtig resümiert - eigentlich keiner wollte, in der aber trotzdem alle versuchen, irgendwie mitzumachen und zurecht zu kommen. Wir sind, so Schirrmacher, in einer Welt der „egoistischen Nutzenmaximierer“ angelangt, weil das Narrativ des Erfolgs uns dies so einredet (und wir daran glauben wollen). Dann ist der Weg zu einer populistischen Weltanschauung nicht mehr weit: wir stellen uns ich-süchtig an den Anfang und ins Zentrum - und danach kommt erst einmal lange nichts außer die eigenen Ansprüche. In einer solch kleingeistigen Nabelschau kommt man sich dann auch selbst wieder „groß“ vor.
Nehmen wir das gegenwärtige Bild, das wir als Gesellschaft in den sozialen Medien abgeben. Dort ist Hochstapelei in Form aufpolierter Trugbilder an der Tagesordnung. Nicht nur, dass sich die Fotos der Selbstdarstellung gleichen und bestimmte Erfolgsmuster perpetuieren, sondern jedes Bild setzt in Szene. Es wird eine Welt vorgegaukelt, in der alle ausgesprochen hübsch, sexy, witzig und muskulös sind. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Die weibliche Magersucht findet, so die SZ, ihr Pendant in der männlichen Muskelsucht. Es gilt um jeden Preis aufzufallen im Kampf um das knappe Gut ‚Aufmerksamkeit‘. Alle manipulieren und versuchen sich im besten Licht darzustellen. Da gerät die gelebte Wirklichkeit schnell aus dem Blick oder wird zu einem Problem, weil sie mit der eigenen Selbstwahrnehmung kaum Schritt hält.
Und so geht es weiter auf unseren Straßen. Hier ist der SUV die Hochstapelei im Verkehr. Es scheint nur um die Frage zu gehen, wer in dieser Blechhierarchie das größte Pferd hat. In unseren dicken Kisten blähen wir uns auf, beanspruchen Raum, der uns nicht gehört (sondern allen) und sind gemeinsam mit unseren Fahrzeugen auf anabolen Steroiden: wir machen uns breit auf Kosten der anderen, insbesondere jener Verkehrsbeteiligten, die ohne „Commander Position“ unterwegs sind. Das nehmen wir für unser souveränes Fahrgefühl in Kauf und thronen weiter selbstgefällig über dem Verkehr.
Letztes einprägsames Bild: der Konsum. In den Fußgängerzonen volle Tüten (oft noch Plastik). Wir stopfen uns die Taschen, um nach möglichst viel auszusehen, obwohl das einzelne Teil kaum großen Wert besitzt. Auch hier stapeln wir im wahrsten Sinn des Wortes hoch, packen Einkaufswägen in Supermärkten voll und schleppen nach Hause, was wir oft nicht benötigen (um es nicht selten wieder wegzuwerfen). Und es genügt ja auch nicht mehr, einfach gut zu essen und zu trinken, sondern dazu braucht es „Super Food“. Der Überfluss wird zur Schau gestellt, weil ein Bild nach außen erzeugt werden soll. Und Image ist wichtig, wenn nicht sogar alles – auch hier zeigen sich die erschreckenden Parallelen zu Donald Trump, der immer noch so agiert, als wäre er in der Reality-Show. Trump ist die logische Konsequenz der schlechten Seiten der Postmoderne, ihrer Beliebigkeit und fehlenden Konsequenz, so E. Bronfen im Interview von AVENUE, einem neuen Magazin, das sich mit „Hochstapelei“ befasst. Tenor ist, dass wir zwar keine neue Stufe, aber ein erschreckendes Ausmaß des Phänomens erreicht haben.
Der Einzelne als Hochstapler ist eine prominente Sozialfigur. Jeder kennt den „Hauptmann von Köpenick“ und „Felix Krull“ aus der Literatur – oder die geschönte Biographie und den unrechtmäßig erworbenen Doktortitel des einen oder anderen Promis aus dem echten Leben. Aber was bisher Einzeltaten waren, wird nun zum gesellschaftlichen Risiko: wenn alle vorgeben als etwas zu gelten, was sie nicht sind, und aus jedem Lebensplan eine Erfolgsgeschichte werden soll;
wenn man sich anmaßt, was Besseres zu sein und alles nach ‚mehr‘ aussehen muss, dann produziert eine Gemeinschaft zu viel Neid, Missgunst und Ausgrenzung, weil jeder nur noch engstirnig einklagt, was ihm vermeintlich zusteht: Willkommen in der Welt der Populisten, die vorgeben, ‚Identität und Interessen des Volkes‘ zu wahren. Es hat den Anschein, als ob - im öffentlichen Umgang miteinander - Bescheidenheit als Dummheit, Selbstkritik als Schwäche und Offenheit als Fehler betrachtet werden, die man sich nicht leisten darf.
Nun will ich abschließend nicht bestreiten, dass es schwer ist, im Konsumkapitalismus ehrlich bei sich selbst zu bleiben, zu verführerisch sind die Ablenkungen einer Sprach- und Bildkultur, in der wir uns alle größer machen können als wir sind. Aufschneiderei streichelt das eigene Ego und sorgt – auf den ersten Blick - für soziale Anerkennung. Ein ‚Stoff‘, so attestiert uns die Gehirnforschung, nach dem man süchtig wird. Wie also können wir den kritischen Diskurs um Selbstverwirklichung führen, ohne nur noch nach Selbstoptimierung im ökonomischen Sinn zu klingen? Ein erster Schritt wäre, den bloßen Verwertungszusammenhang, in den wir uns als kalkulierende Marktkonkurrenten manövriert haben, zu reflektieren und Maßstäbe zu finden, die über das Messbare hinaus führen.
Klar ist: Es ist eine schwierige, aber erlernbare Technik, mit sich selbst umzugehen. Jedes tiefere Nachdenken über die Frage: „Wer bin ich?“ endet früher oder später in iterativen Schleifen, in denen wir uns selbst nicht einholen können. ‚Per sonare‘ heißt zwar durch die sozialen Rollen und gesellschaftlichen Funktionen hindurchklingen, aber die ‚dahinter‘ stehende Person kommt deswegen nicht unbedingt zum Vorschein. Das macht es nicht leichter, sich mit sich selbst auszukennen, aber auch nicht unmöglich; denn die Frage nach dem eigenen Ich ist unabweisbar, wie P. Bieri betont. Die Sorge um sich hört nie auf, bleibt präsent und stellt sich immer wieder neu.
Wir sind außerdem viel zu sehr auf andere ausgelegt, als dass wir die Frage nach uns selbst alleine beantworten könnten: „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch.“ Das bedeutet im Umkehrschluss, die Neigung zur Hochstapelei ist der Suche nach persönlicher Identität und individueller Selbstbestimmung inhärent. Wir müssen ihr begegnen und antworten. R. Willemsen hat posthum ein kleines Manifest hinterlassen. Darin blickt er aus der Zukunft auf ‚unsere breite Gegenwart‘ und warnt: Wir stapeln hoch (und immer höher), wenn wir von uns selbst nicht aufgehalten werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns nach allen demokratischen und sozialen Regeln des Miteinanders wieder Grenzen setzen und Einhalt gebieten.
Stefan Wolf
Zitierte, verwendete und weiterführende Literatur:
AVENUE: Hochstapler*in, das Magazin für Wissenskultur, 01/2017; darin: Bronfen, Elisabeth im Interview, S. 13-22 und „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch“ (Virchow/Kaiser, S. 3)
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011
Char, René: „Il fallait boire narcisse! Ne pas te mirer!“ , in: „Le miroir des eaux“, Paris 1952
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004
Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010
Haller, Reinhard: Die Narzissmusfalle, 2013 (zit. n. SZ v. 11./12.2.17, S. 49)
Karafyllis, Nicole (Hg.): Das Leben führen, Berlin 2014, zum Thema ‚Techne‘, insbes. S. 15ff.
Luhmann Niklas: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992
Möbius, S./Schroer, M. (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010
Pörksen, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 2012 (7.Aufl.)
Das Buch erschien bereits 1988: „Die Gemeinsamkeit der Plastikwörter besteht in einem ungewöhnlichen Übergewicht des Konnotats (also der Assoziationen, Anm. d. Verf.) gegenüber einem im Grunde nicht mehr vorhandenen Denotat (das, was eigentlich bezeichnet werden soll, Anm. d. Verf.).“
Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a.M. 2009
Schirrmacher, Frank 2013, zitiert nach Hampe, M.: Die Lehren der Philosophie, Berlin 2014, S. 41. Ein weiterer Begriff, der dies illustriert, kommt von Sloterdijk, P.: Wir leben in einer Epoche der ‚Schadensersatzansprüche‘ … O. Nachtwey bezeichnet uns Bürger*innen in der „Abstiegsgesellschaft“ (Frankfurt a.M. 2016) als „Kunden mit Rechten“ (Umschlag)
Süddeutsche Zeitung (SZ): „Mach Dich breit!“ (Wochenendbeilage v. 18./19. 02. 2017)
Willemsen, Roger: Wer wir waren, Frankfurt a.M. 2016
„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ (Zitat Umschlag)
Wolf, Stefan: Citoyen21 – der leere Ort. Eigene Lebensführung als kritische Masse, in: Ders./ Marquering, P. (Hg.): Unkritische Massen? Berlin 2016, S. 111 – 132, insbes. S. 119ff.