Bude empfiehlt dem Kursbuch einen „ethischen Experimentalismus“, um das offensichtliche Theorievakuum vielleicht nicht ganz zu füllen, aber wieder deutlich zu verkleinern. Armin Nassehi, Soziologe aus München und Mit-Herausgeber neben Peter Felixberger, fragte in der Diskussionsrunde zu Recht, warum wir es gesellschaftlich nicht mehr wagen, das Ganze zu denken? Budes sozialpsychologische Antwort: Die Kriegsgeneration wollte vergessen und verdrängte die schmerzlichen Erfahrungen des III. Reichs mit einem kategorischen Schlussstrich: „Schlimmer kann es nicht kommen“ – totale Kapitulation und der schrecklichste Völkermord aller Zeiten. Nachkriegsdeutschland verfolgte deshalb das geschichtslose Projekt „Gesellschaft“ - und das Kursbuch gab ab 1965 für die außerparlamentarische Opposition Richtung und Inhalt vor.
Auch ohne Sozialpsychologie und Flakhelfer-These trifft die Diagnose: in der BR Deutschland sollte es eine durch Theorie aufgeladene Gesellschaft geben, die geschichtsvergessen einfach an jene demokratischen Werte anschloss, die als allgemein gültig proklamiert wurden. Das war jener ‚Verfassungspatriotismus‘, der sich auf universalistische Prinzipien und nicht auf historische Kontingenz berief. Diese Theoriegläubigkeit erscheint heute wie aus der Zeit gefallen. Dies zeigt sich auch darin, wie befremdet einige Autoren des aktuellen Kursbuches 182 (Das Kursbuch. Wozu?) auf ihre eigenen Texte reagierten, als sie gebeten wurden, diese „weiterzuschreiben“. Als kämen sie aus einer anderen Welt, in der man Realitäten noch durch Worte herbeireden konnte.
Aber Bude weist zu Recht darauf hin, dass es eine „ethische Grammatik“ gibt, und sich das Kursbuch um eine solche Sprache bemühte und wieder bemühen sollte. Es fehlt ja nicht an Beobachtern – im Gegenteil, es sind zu viele, die zu oft in Diskursen nicht zur Klärung, sondern nur zur Steigerung der Komplexität beitragen. Natürlich ist es richtig, auf die Kontingenz von Unterscheidungen hinzuweisen, aber – und da wurde Bude nicht müde zu betonen – das hat für unsere eigene Lebensführung und die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ keine unmittelbare Relevanz.
Gesellschaftliche Praxis braucht auch die Behauptung, das moralische Argument und Antworten auf die Frage, was richtig oder falsch ist. Natürlich darf eine öffentliche Debatte diese Fragen nicht naiv beantworten und sich auch nicht „blind“ normativen Prinzipien anvertrauen.
Aber etwas mehr Arbeit am Begriff würde dem Kursbuch gut tun, um wieder stärker mit den Lebenswelten verschränkt zu sein. Da hilft Nassehis Hinweis auf ‚Gelassenheit als Erkenntnismittel‘ nur bedingt. In einigen Fragen braucht diese Gesellschaft mehr davon (um z.B. mit Migrationsfragen unaufgeregter umzugehen), aber in vielen anderen Fragen grenzt Gelassenheit an Ausrede, sich nicht weiter mit gesellschaftlichen Themen befassen zu müssen bzw. in der Beobachterecke zu bleiben oder noch eine weitere Betrachtungsebene einzuziehen. Darin ist das Kursbuch stark, es liest sich gut, bleibt aber ohne Konsequenz: der Kontingenz wird außer Komplexitätskontemplation nichts entgegnet. Dann kann sich jeder Lesende wieder in seinen eigenen Kosmos zurückziehen und das große Ganze sein lassen. Mein Fazit lautet: Die Distanz ist zu groß. Nur über die Gesellschaft gebeugt zu sein und mal gelehrig mal gelassen zu kommentieren, greift für das neue Kursbuch zu kurz. Es muss raus aus der selbst gebauten Vielfaltsfalle. Zum Geburtstag wünsche ich mir mehr intervenierende Gesellschaftskritik.
Wie das gehen kann, regt eine Idee des ausgezeichneten Abends, der als kleiner Festakt für ein großes Magazin fungierte, an. Bude zitierte aktuelle empirische Studien über die Generation X/Y/Z, die belegen, dass es der Jugend um Verbindlichkeit in der Vernetzung geht. Natürlich nicht in jedem „link or like“ der sozialen Netze, aber sie wollen auch aus wichtigen Verbindungen wirkliche Verpflichtungen machen. Entstehen aus diesen neuen sozialen Formaten des Wir-Gefühls, das wir auch Gesellschaft nennen können, neue Lebensformen? Wie könnte sich dieses neue soziale Miteinander weiter entwickeln? Und können wir Boomer-Generation, so Budes Vorschlag, jetzt die Jugend zu unserem Sprachrohr machen, um die Frage nach einem guten Leben wieder mit guten Theorien zu verbinden? Nicht auf einen Schlag und auch nicht mit ideologisch vernagelten Ideen, aber mit einem kritischen Denken, das sich wieder erlaubt, Perspektive mit Position zu verknüpfen und einen Standpunkt einzunehmen.
Das Kursbuch wäre zurück an den Wurzeln und wieder mitten im Diskurs um Individualität und Gesellschaft, der nicht darin endet, dass wir unsere Unterscheidungen problematisieren, sondern dazu führt, dass wir klug streiten. Klug meint, auf die Frage, wie wir unser Leben führen wollen, Antworten zu finden, die für uns als Einzelne Sinn machen, ohne die gesellschaftliche Bedeutung außer Acht zu lassen. Im Gegenteil, was Sinn macht, muss sich wieder viel mehr an der Frage „Wozu bist du gut?“, dem Gemeinwohl, orientieren und darf nicht vordergründig auf dem Bazar der Partikularinteressen verhandelt werden. Es strengt an, gerechtfertigte Ansprüche von aufmerksamkeitsheischenden Erregungszuständen zu unterscheiden, - was unseren Medien meines Erachtens immer weniger gelingt -, aber es lohnt sich; denn in einer individualisierten Gesellschaft ist nichts dringender als kluge Antworten auf die Frage nach der richtigen Lebensführung. Erste These ist: Unsere Selbstverständigung darüber, wie wir leben wollen, ist von der Frage nach einer guten Gesellschaft zu unterscheiden, aber nicht zu trennen.
Wer sich um Differenz bemüht, steigert Komplexität. Das haben wir in unseren öffentlichen Diskursen zur Genüge strapaziert. Nun wäre es an der Zeit, das Verbindende in der Vielzahl der Möglichkeiten zu suchen und gemeinsam zu erarbeiten. Dafür braucht es intellektuelle Institutionen, wie das Kursbuch eine sein könnte. Bude erzählte am Ende von einer Geburtstagsfeier eines Politikers, der nicht mehr aktiv ist. Dieser fragte ihn, warum es in unserer Gesellschaft so wenig gemeinschaftliche Zuversicht gebe? Ein Teil der bitteren Wahrheit liegt darin, dass wir uns um das große Ganze nicht kümmern wollen, weil es mühsam ist, sondern lieber in unseren kleinen Parzellen des eigenen Lebens bleiben - ganz so, als ob das Private nicht politisch wäre.
Wie kluge Wege aus den einzelnen Kontexten wieder hinausführen und auf ein Gemeinsames hinweisen, das könnte das Kursbuch wortgewandt erörtern und bildgewaltig zeigen - und so neue gesellschaftliche Zuversicht anregen. Das wäre ein Geschenk.
Stefan Wolf
Der Autor hatte Gelegenheit am 10. Juni an der Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre Kursbuch“ im Murmann-Verlag in Hamburg teilzunehmen. Nach einem Vortrag von Prof. Dr. H. Bude zum Thema „Schön neutral. Die heroischen und die weniger heroischen Tage des Kursbuchs“ gab es ein Podiumsgespräch zwischen Prof. Bude und den beiden Herausgebern Prof. Dr. A. Nassehi und Dr. P. Felixberger. www.kursbuch-online.de