„Es geht nicht auf!“ So bilanziert sich die ernüchternde Erkenntnis, wenn wir unser Lebensgefühl in der ‚Postdemokratie‘ (Crouch) auf den Punkt bringen sollen. Gleich in welcher Hinsicht wir uns denken: als mündige Bürger, kritische Konsumenten oder beruflich Tätige – in keiner dieser gesellschaftlichen Funktionen geht die Gleichung auf, sondern unsere persönliche Identität bleibt als offener Bruch zurück: Leben im 21. Jahrhundert heißt in erster Linie, seine Haut unablässig zu Markte zu tragen, sich permanent im Wettbewerb anzubieten. Diese ständige Profilierung und Verfügbarkeit verlangt zu viel. Der Konsumkapitalismus entwertet uns:
„Die Anordnung, ‚überall jemand zu sein‘, erhält den pathologischen Zustand aufrecht, der diese Gesellschaft notwendig macht. Die Anordnung, ‚stark zu sein‘, produziert so sehr die Schwäche, mit der sie sich
aufrechterhält, dass alles eine therapeutische Seite anzunehmen scheint, ...“[1]
Es ist die Sprache der Werbung, die sich und uns verrät. Sie verführt nicht nur, sondern fabuliert über gelingende Individualität in einer schön gefärbten Rhetorik der Selbstverwirklichung, die kein Mentaltraining besser formulieren könnte: „Innovate, don’t imitate!“ „Folge deinem inneren Kompass!“ „Immer frei, nie ziellos!“ sind nur einige Beispiele, die so tun, als ob mit Konsum ein sinnerfülltes eigenes Leben glückt. Die Botschaft lautet: wenn du schon das Leben, das du eigentlich haben möchtest, nicht führen kannst, dann kauf‘ dir jetzt wenigstens den Moment … Das allein ist aber nicht das Problem. Werbung als „Wunschvorzeigemaschine“ (R. Barthes) animiert und wird dafür Sprache bis an die semantische Schmerzgrenze strapazieren. Das Thema verschärft sich dadurch, dass viele andere Bilder in der Öffentlichkeit, die auch Orientierung bieten, an Relevanz verlieren bzw. ganz verschwinden. Ideale, die keinen ökonomischen Erfolg versprechen, werden als unnütze ‚Gutmenschart‘ verunglimpft. Bildung ist kein erstrebenswertes Ziel mehr, sondern es sind nur noch marktförmige Kompetenzen gefragt. Künstlerisches Talent genügt nicht, es sei denn die Kreativität lässt sich kommerziell verwerten.
Offenheit für Neues reicht auch nicht mehr aus, sondern es wird ständige Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Marktbedingungen erwartet – allen Erfordernissen gemeinsam ist, dass sie auf die individuelle Ebene herunter gebrochen sind. Wer sich so als Einzelner immer wieder dem Markt stellen muss, hört auf, die Verhältnisse in Frage zu stellen. Die Wirtschaft bietet ja jede Menge Möglichkeiten, so der Tenor, doch das Individuum steht dort ziemlich allein – und genau da tragen die trügerischen Bilder der Werbung, die so tun, als ob wir frei über uns entscheiden könnten. „Better your Best“ - der Wettbewerb der ‚modularen Selbstunternehmer‘ (Mirowski) läuft auf allen Kanälen und vollen Touren. Keiner will unter die Räder kommen: Marktförmige Selbstoptimierung statt gesellschaftlicher Selbstermächtigung.
Individualisierung, darauf hat der kürzlich verstorbene Soziologe U. Beck hingewiesen, wird so zum Austragungsort gesellschaftlicher Paradoxien, die durch die einseitige Trimmung auf den Markt hervorgerufen werden:
„Die Lebensbedingungen der Individuen werden ihnen selbst zugerechnet; und dies in einer Welt, die sich fast vollständig dem Zugriff der Individuen verschließt. Auf diese Weise wird das ‚eigene Leben‘ zur biographischen Lösung systemischer Widersprüche.“[2]
Aufklärung neu denken
Das System, bin ich geneigt zu ergänzen, hat gesiegt: wir wollen nur noch uns, nicht länger die Verhältnisse ändern. Die politische Aufklärung kommt an ihr Ende, weil sich ihre emanzipatorische Programmatik erschöpft. Zwar haben wir uns aus der eigenen Unmündigkeit befreit (Aufklärung 1.0) und gelernt, mit der „Dialektik der Aufklärung“ (Horckheimer / Adorno) umzugehen (2.0), aber die „Erfindung des Politischen“, welche die reflexive Moderne (Beck) neu zu beleben suchte, mündet in den Offenbarungseid der aktuellen Politik, nur noch zu administrieren, reformieren und novellieren, was eigentlich als ‚das Politische‘ gestaltet werden müsste.
Was hat sich gedreht? In der reflexiven Moderne (Aufklärung 3.0) beugte sich das aufgeklärte Individuum über sich selbst, um erstaunt festzustellen, dass es sich im Plural denken kann, dann aber lernen muss, mit der eigenen Selbstwidersprüchlichkeit umzugehen, welche die individualisierte Gesellschaft im Einzelnen erzeugt. Am Ende der „großen Rahmenerzählungen“ (Lyotard) bleiben kaum Leitbilder übrig, an denen sich das Individuum in seiner politischen und persönlichen Idee vom eigenen Leben ausrichten kann. Die marktkonforme Demokratie hat aus allem einen Wettbewerb gemacht, der nur pragmatisch, nicht ideologisch zu gewinnen ist. Wir haben Optionen, aber keine Überzeugungen mehr. Das fluide Ich bringt sich in jede gewünschte Form. Gelingendes Leben spiegelt sich im wirtschaftlichen Erfolg wider und der Einzelne, der sich andere Ziele setzt, muss sich fragen lassen, ob er die Spielregeln verstanden hat. Wer es nicht schafft, sich auf dem Markt der Möglichkeiten zu behaupten, wird gesellschaftlich zur Randfigur, dem der eigene Individualisierungsanspruch vor die Füße fällt.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Aufklärung 4.0, um das vielheitsfähige Ich neu zu denken. Wir haben ein Leben zu führen, und diese Lebensführung verlangt uns einiges an Entscheidungen ab. Dafür ist weder das Ideal der philosophischen Aufklärung noch die optionale Vielfalt marktförmiger Lebensstile ein geeignetes Modell. Die Aufforderung, unser Leben zu gestalten, also Bürger, Konsumenten, Arbeiter und vieles mehr zu sein, hat sich seit dem „Projekt der Moderne“ (Habermas) nicht geändert. Was anders ist, ist die Art und Weise, wie wir unser eigenes Leben überantwortet bekommen. Wir werden allein und uns selbst überlassen. Alles, was wir tun und wofür wir stehen, ist begründungspflichtig. Nichts ergibt sich von selbst, nichts kann mehr entschuldigt werden mit der sozialen Herkunft oder fehlenden Chancen. Da wird es schwer, sich als Autor und Subjekt der eigenen Lebensgeschichte (Bieri) zu erzählen, wenn einem alles so zugerechnet wird, nur weil es prinzipiell verfügbar scheint. Wie kann demnach eine Aufklärung 4.0 aussehen, in der das Individuum in ‚einer Zeit der verlorenen Unschuld‘ (Eco) sinnvoll von sich sprechen kann?
Das System signalisiert uns über Körperkult, Arbeitsflow, Konsumdruck, Fitness- und Ernährungstipps, dass wir ständig an uns arbeiten müssen, nie zufrieden sein dürfen, also uns nicht auf Augenhöhe befinden. Das neoliberale Ich ist nicht freier, aber jetzt spüren wir die Lücke deutlicher, weil alles um uns herum genau diese Freiheit (und sei es nur als Wahl) zu verkörpern scheint. Die Multioptionsgesellschaft schickt uns auf die Jagd nach dem eigenen Ich, so als ob es nur eine Frage wäre, welche optimierte Version unseres Selbst wir heute gerne darstellen möchten. Wahlfreiheit? - In Wirklichkeit stellt sich die Frage anders, nicht nach Opportunität.
Aufklärung auf Augenhöhe
Der Einzelne ist in Sorge um sich (Foucault) und möchte sich selbst ernst nehmen können (Frankfurt); d.h. sich nicht einfach so hinnehmen wie man eben ist. Menschliche Lebensführung findet in dieser „Vertikalspannung“ (Sloterdijk) statt. Wir ‚Paradoxiekünstler‘ bemühen uns, in fließenden Grenzen und bei offenen Strukturen auf schwankendem Fundament etwas Vernünftiges zustande zu bringen. In der Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen, in der wir eigene Ziele haben und uns bewusst zu ändern suchen, liegt der Kern einer ‚Autonomie auf Augenhöhe‘. Wer auf Augenhöhe ist, hat eine Idee von der eigenen Würde sowie ihren unveräußerlichen Rechten und besitzt die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Die Pointe liegt darin, dass wir in diesem Bemühen immer wieder auch scheitern und neu anfangen.
Auf Augenhöhe mit den politischen Verhältnissen zu sein, bedeutet, sich nicht als Spielball zu empfinden, sondern Spielräume wahrnehmen zu können. Eine Aufklärung 4.0 sieht das Individuum in dieser Spannung, „sich bewegen, aber nicht bestimmen lassen zu wollen“ (Seel) und definiert Autonomie als das reflexive Eingeständnis in die eigene Selbstwidersprüchlichkeit, da wir politisch und persönlich viel wollen, aber oft nicht erreichen, was wir uns vornehmen. „Die politisch flexible Identität kämpft darum, als das anerkannt zu werden, was sie ist.“[3] Wir wollen spüren, dass wir unser Leben in der eigenen Hand haben, auch wenn wir wissen, nicht alles selbst beeinflussen und steuern zu können. Um ein starkes Bild zu wählen: wir wären gerne ‚Primzahlmenschen‘ (A. Schmidt), ein unverfügbares Ich, das durch nichts als sich selbst teilbar ist.
„Das moderne Individuum, das keine vorgegebene Ordnung mehr antrifft, braucht statt Emanzipation und Befreiung Kreativität und Selbsterfindung – ein ständiges Tasten im Ungefähren.“ (R. Leick in: Spiegel Online, 03.01.2015)
Den Selbstanspruch aber immer wieder neu zu formulieren, also auch auf Augenhöhe mit sich zu sein, zeichnet uns aus – und wir wollen in einer Gesellschaft leben, die uns diese Möglichkeiten, anders und besser zu werden, offen hält. Und das meint Anderes und mehr als zu konsumieren oder sich für die eigene Beschäftigungsfähigkeit weiter zu qualifizieren. Unsere widerständige Identität geht nicht auf in einer „Funktion des Nützlichen“: Eigeninitiative ist mehr als Selbstunternehmertum; Selbstbewusstsein erschöpft sich nicht in der Existenzgründung einer Ich-AG - und sein Leben verantwortlich organisieren zu können, beinhaltet mehr als soziale und ökonomische Kompetenzprofile eilfertig zu erfüllen. Das gute Leben hat mit politischer Selbstbestimmung zu tun, auch wenn wir uns als Bürger in der täglichen Umsetzung widersprüchlich zeigen.
Die neue Aufklärung will politisch ermutigen und individuell wertschätzen, ohne zugleich wieder ein Ideal zu formulieren, das weder die Gesellschaft noch der Einzelne erreichen kann. Das war gut gemeint, aber ein Fehler der Aufklärung 1.0, den wir nicht wiederholen sollten. Aufklärung 4.0 ermöglicht das „Nein zur eigenen Wahrnehmung“ (Gebauer).
Wer diesen Satz politisch versteht, kann nur eine offene, pluralistische, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft von freien Bürgern meinen, weil alles andere diese Selbstwidersprüchlichkeit, die uns als Freiheit auszeichnet, verneint. Wir wollen uns aber nicht negieren lassen weder von den politischen noch den ökonomischen Verhältnissen. Lasst uns auf jeden Fall über alles streiten, was diese ‚neue Bürgerlichkeit‘ sein kann, will und soll, aber lasst sie uns auf keinen Fall mehr nehmen.
Stefan Wolf
Literatur:
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011.
Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a.M. 1993.
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2010.
Eco, Umberto: Nachschrift zur Name der Rose, München 1984.
Gebauer, A./Kiel-Dixon, U: Das Nein zur eigenen Wahrnehmung ermöglichen, in: Organisationsentwicklung Heft 3/2009, S. 40-49.
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Kleine politische Schriften, Frankfurt a.M. 1981.
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004.
Frankfurt, Harry: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt a.M. 2007.
Lyotard, Jean Francois: Das postmoderne Wissen, Wien 1999.
Seel, Martin: Sich bestimmen lassen, Frankfurt a.M. 2002.
Sloterdijk, Peter: Du sollst dein Leben ändern, Frankfurt a.M. 2009.
[1] ) Unsichtbares Komitee: „Der kommende Aufstand“, Hamburg 2009, 12.
[2] ) Ulrich Beck: „Das Zeitalter des eigenen Lebens“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (apuzg) B 29 / 2001, 12.
[3] ) Charim: „Der leere Ort“, in: SonnTAZ 18./19.10. 2014. Vgl. hierzu auch meinen Artikel in: www.forum-fuer-politik-und-kultur.de.