Öffentliche Vernunft verlangt kritisches Denken. Eine offene Gesellschaft muss sich zu sich selbst auf Distanz bringen können, um reflexiv den eigenen Werten und Normen zu begegnen. Dazu braucht es ein Mehr an neuer Bürgerlichkeit, an Mündigkeit des Einzelnen und gesellschaftlicher Teilhabe sowie einer ‚zweiten‘ Aufklärung. Kritische Massen bilden in den Wissenschaften eine Größe, die ein Gesamtsystem wirkungsvoll verändern kann. Unkritische Massen sind - so gesehen - eine „critical mass“, die pluralistische Demokratien aus dem Gleichgewicht bringen können, weil sie sich als Öffentlichkeit träge verhalten und anfällig für populistische Parolen erweisen.
Offene Gesellschaften leben aber von der Kritik in Form reflexiver Selbstdistanzierung sowohl der Institutionen (Staat) als auch der Individuen (Bürger) zu sich selbst. Dies gelingt einer öffentlichen Vernunft, die sich als persönliche Urteilskraft, differenzierter Blick und abwägendes Handeln äußert. Unkritische Massen als politische Größe stellen deshalb eine große Gefahr dar, weil es ihnen genau an dieser notwendigen Selbstdistanzierung fehlt. Eine lebendige Zivilgesellschaft aber basiert auf politischer und kultureller Vielheit, die durch das kluge Zusammenspiel von intelligenten Institutionen und individueller Verantwortung getragen wird.
Bürgerlichkeit als Inbegriff individueller Freiheit
Odo Marquard hat in seinem Band „Skepsis in der Moderne“ die gegenseitige Machtbeschränkung der einzelnen Teilsysteme im Staat als wirkungsvolles Mittel bezeichnet und dafür das anschauliche und nur auf den ersten Blick irritierende Wort vom „Zugriffsgedrängel“ geprägt. Es sei die Pluralität der Wertepositionen, die eine politische Ordnung und ihre gesellschaftliche Wirklichkeit „individualitätsfähig“ mache:
„Denn individuelle Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – voneinander unabhängige – Wirklichkeitsmächte existieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken.“ (Marquard 2007: 52)
Es sind die pluralistischen, die offenen Gesellschaften, in denen Individualität gelingen kann, weil Freiheit als eigener Interpretationsspielraum entsteht, in dem sich Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit als Person erproben und entfalten können, ohne gleich um Leib und Leben fürchten zu müssen. Soweit die Theorie einer politischen Philosophie, die Pluralität als kulturelle Ordnung denkt. Doch wie sieht die soziale Realität in demokratischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Da komme ich auf Ulrich Beck zurück. Er hat Individualisierung in der Risikogesellschaft als Thema und Problem identifiziert.
In seiner „Gesellschaftstheorie des eigenen Lebens“ (1997, 15) sieht Beck den Einzelnen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zwischen der Anforderung, ein eigenes Leben führen zu wollen, und den Zumutungen gesellschaftlicher Subsysteme, allen voran die der Wirtschafts- und Arbeitswelt:
„Die moderne Gesellschaft integriert den Menschen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten (...) teilnehmen.“ (a.a.O., 10).
Die philosophische Begrifflichkeit klingt anders. Der gesellschaftspolitische Sachverhalt aber liegt ähnlich: Es sind „individuelle Verantwortung“ und „öffentliche Vernunft“, die den Einzelnen als mündigen Bürger und den demokratischen Staat als freiheitlich-rechtliche Grundordnung kennzeichnen. Nur so gelingt es, auf Seiten der Institutionen, eine offene und pluralistische Gesellschaft zu gewährleisten und auf Seiten der Individuen, nicht an den desintegrativen Funktionsweisen einzelner Teilsysteme als Person zu scheitern. Auf keinen Fall darf, den postdemokratischen Zuständen zum Trotz, „der Konsument über den Staatsbürger siegen“ (Crouch 2010, 67).
Im Gegensatz zu Marquards Skepsis, was die Befähigung des Einzelnen zur Selbstverantwortung anbelangt und in Ergänzung zu Beck sehe ich in den Kräften des Marktes auch individuelle Entwicklungschancen und die Möglichkeit zu mehr Eigeninitiative, nicht nur im unternehmerischen Sinn. Die Frage nach Moralität und Sittlichkeit, die sich in Staat, Gesellschaft und Unternehmen gleichermaßen stellt, wird auf den Einzelnen und sein Verantwortungsgefühl heruntergebrochen, weil sie nur so spür- und lebbar wird und wahrgenommen werden kann. Fragen der richtigen eigenen Lebensführung sind somit eng verknüpft mit den gesellschaftlichen Strukturen. Wird dieses individuelle Gefühl öffentlich wirksam, weil sich Mehrheiten organisieren, hat es das Potential, zur kritischen Masse zu werden.
Unkritische Massen als ‚kritische Masse‘
„Kritische Masse“ als politischer Begriff ist eine starke Metapher, um Willensbildung in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu kennzeichnen. Nur wenn auf diesem Weg eine qualitative Mehrheit entsteht, lässt sich öffentliche Meinung als politische Kraft bilden und formen. „Kritische Massen“ stellen in den Naturwissenschaften eine Größe dar, die ein Gesamtsystem wirkungsvoll beeinflussen oder gar stark verändern können. Unkritische Massen als gesellschaftliche Wirklichkeit können eine solche „Critical Mass“ bilden und bedeuten in Postdemokratien eine große Gefahr, weil sie sich als Öffentlichkeit träge verhalten und nicht selten manipulierbar erscheinen. Aus dieser Ambivalenz von Trägheit und Verführbarkeit resultiert ein prekäres gesellschaftliches Gleichgewicht, das politisch immer wieder neu hergestellt werden muss und im fairen Austausch zu verhandeln ist. Unkritische Massen entziehen sich diesem öffentlichen Diskurs, ja verweigern ihn sogar.
Offene Gesellschaften sind aber durch - genau diese - reflexiven Selbstverständigungsdiskurse geprägt und brauchen das Zusammenspiel aus öffentlicher Vernunft und individueller Klugheit; d.h. intelligente Institutionen gewährleisten, dass sich eine Zivilgesellschaft entfalten und der Einzelne sein Recht auf Selbstbestimmung - bei Wahrung der Rechte Dritter - ausüben kann. Dazu müssen Diskussionen initiiert werden, in denen sich eine Gesellschaft nicht nur mit sich selbst darüber verständigt, was ihr wichtig und wert ist.
Sondern sie reflektiert auch darüber, auf welchem Weg, sie ihre Ziele erreichen möchte.
Auf diese Weise kann öffentliche Meinungs- und Willensbildung gelingen, um demokratische Mehrheiten zu organisieren und politische Entscheidungen zu legitimieren. Die Zivil- oder auch Bürgergesellschaft stellt eine ‚kritische Masse‘ dar, weil sich Mehrheitsverhältnisse nicht nur im demokratischen Sinn verändern können, sondern auch durch ‚veröffentlichte Meinung‘ hochgradig beeinflussbar sind. Da ist öffentliche Vernunft als Fähigkeit, zu unterscheiden und zu differenzieren, gefragt. Sich eine eigene Meinung zu bilden, Argumente zu erörtern sowie sich mit unterschiedlichen Ansichten kritisch und konstruktiv auseinander zu setzen, gehört zum aufgeklärten Bürgertum.
‚Sensationsgesellschaften‘ kennzeichnen sich durch die schnelle Erregung der Massen, die sich medial hochschaukelt, wenn Lebensmittelskandale aufgedeckt, bekannte Persönlichkeiten mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder renommierte Unternehmen aus Profitgier Kunden täuschen. Ist die erste Wut in solchen Fällen mehr als verständlich, so erstaunt die Kurzlebigkeit der Skandalisierungswelle umso mehr. Hat sich die vermeintliche Volksseele erst einmal auch medial Luft verschafft, scheint sie wenige Wochen später in den gleichen Arbeits- und Konsumtrott zurückzufallen, bis der nächste Skandal die Print-Schlagzeilen oder sozialen Medien elektrisiert.
Dieser ebenso typische wie problematische Verlauf von Skandalen in einer postmodernen Mediendemokratie muss deutlich unterschieden werden von jenen „unkritischen Massen“, die sich populistischen Parolen gegenüber anfällig zeigen und in der Summe politischen Positionen Raum geben, die mehr und mehr nicht nur Minderheiten diskriminieren, sondern auch die Demokratie gefährden. Es fällt auf, wie wenig es gegenwärtigen demokratischen Ordnungen gelingt, ihr eigenes Wertefundament zu begründen und es gegen diese Eindimensionalitäten zu verteidigen. Die Anfälligkeit für einfache politische Parolen ist groß. Es braucht eine Diskussion um politische Normen, in der eine streitbare Demokratie bewusst zu sich selbst auf Abstand geht; denn öffentliche Vernunft ist Ausdruck eines Selbstverständigungsdiskurses, der bei der „Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen“ (Marquard) nicht nur reflektiert Distanz hält, sondern auch sich selbstkritisch, offen und lernfähig zeigt.
Individuelle Verantwortung – neue Bürgerlichkeit?
‚Mittlere Reichweiten‘ hat Dahrendorf vorgeschlagen, um sich als Bürgergesellschaft sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht klug zu verhalten und verantwortlich zu fühlen[1]. Das „Wir“ als Volk ist als eine Gemeinschaft des Rechts zu denken, das bestimmte Freiheiten teilt. Es ist kein homogen gewachsenes Kollektiv, das sich auf eine gemeinsame Herkunft berufen könnte. Populismus hingegen kann als (völlig) übertriebene Nabelschau erachtet werden, dem genau diese kritische Selbstdistanzierung fehlt, weshalb das vermeintlich ‚Eigene‘[2] zu sehr in den Fokus rückt und den Blick verstellt.
Populismus ist, wenn aus Angst Dummheit wird oder anders gefragt: wie kann aus einer Ansammlung intelligenter Menschen plötzlich eine Menge von Idioten werden?
Die ‚kritische Masse‘ ist es aber auch, die eine Bürgergesellschaft in positiver Hinsicht kennzeichnen kann. Nur wenn die Lebensführung Einzelner zu einer mehrheitsfähigen Bewegung wird und gewaltfrei auf die Willensbildung Einfluss nimmt, können sich demokratische Verhältnisse ändern. Das inzwischen kritisch reflektierte Wort der deutschen Kanzlerin aus dem Spätsommer 2015 „Wir schaffen das!“ ist nur ein Beleg für die Selbstaktivierungskräfte einer Zivilgesellschaft, um geflüchtete Menschen in Deutschland nicht nur willkommen zu heißen, sondern auch, was noch zu beweisen ist, auf längere Sicht in die Gesellschaft zu integrieren. Wir haben, so Finanzminister Schäuble, ein ‚Rendezvous mit der Globalisierung‘ – ob wir nun wollen oder nicht.
Ohne dass wir es intendiert hätten, sind wir wieder eine Art „Aufbruchsgesellschaft[3]“ mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen geworden. Es ist der sog. „dritte Sektor“, also der Bereich des ehrenamtlichen Engagements, ohne den nicht nur die Frage der Integration der Migranten unbeantwortet bliebe, sondern auch kein Vereinsleben und viele anderen Bürgerinitiativen, öffentliches Leben konstruktiv zu gestalten, funktionieren würden. So schwankt die Einschätzung der kritischen Masse zwischen dem eher ‚emphatischen Zivilgesellschaftsbegriff‘ (Aarenhovel 2000: 55), einer normativen Vorstellung von ‚Civic Society‘, die eine weiter wachsende Demokratisierung und mehr soziale Partizipation sowie ein vitales Gemeinwesen propagiert. Auf der anderen Seite steht die moderate Variante – ein deskriptiver Begriff der ‚Civic Society‘ -, die in den meisten westlichen Industriestaaten bereits weitgehend erfüllt zu sein scheint.
Sie lässt sich ablesen an der Anzahl an Bürgerinitiativen (Vereinen), gemeinsamer Gemeindearbeit, freiwilligem sozialen Engagement und vielen ad-hoc Bewegungen, um das Miteinander zu stärken (bis hin zu den neuen Beteiligungsformen in den sozialen Medien). In diesem Spannungsfeld eines „experimentellen Wir“ (Bude 2015: 20) bewegen wir uns auch in der Postdemokratie, in der sich die Gesellschaft als Ganzes immer wieder über sich selbst ebenso positiv erstaunt wie tief erschreckt. Allein die Kommunikation in den neuen sozialen Medien, wie Facebook, Twitter und Co zeigt diese Zerrissenheit und die sich verschärfende Tonlage.
Da brennen 2015 Flüchtlingsheime an vielen Stellen in Deutschland in nicht hinnehmbar hoher Zahl und an den gleichen Orten wird eine beispiellose Hilfsaktion gestartet und große Solidarität gezeigt. Da kommt es zu massenhaften Übergriffen gegenüber Frauen an Silvester, die in keiner Form zu dulden sind, doch gleichzeitig nimmt die Schutzbedürftigkeit vieler geflohener Menschen zu, insbesondere der Kinder und Jugendlichen. Da hat man auf der einen Seite das ungeheure Arbeitsmarktpotential junger Migranten und auf der anderen Seite eine gewaltige Integrations- und Bildungsaufgabe in einem für Deutschland seit langem nicht mehr gekannten Ausmaß, auch aufgrund der Plötzlichkeit, in der diese Herausforderungen zu meistern waren und immer noch sind.
Nach Attentaten wie in Paris, Brüssel und Nizza wird emotional verständlich, aber politisch vorschnell nach mehr öffentlicher Sicherheit gerufen und einem Überwachungsstaat populistisch der Boden bereitet, obwohl uns inzwischen allen klar sein dürfte, dass der westliche Lebensstil, den wir schätzen, auf genau jener gesellschaftlichen und privaten Offenheit und einem interkulturellen Austausch beruht, gegen die sich dieser Terror richtet. Das sind nur einige der Paradoxien, mit denen eine pluralistische Gesellschaft, die ihre Freiheitsgrade zu verteidigen sucht, umzugehen lernen muss, soll es keinen Rückfall in überkommene restriktive politische Ordnungen geben, wie wir ihn in einigen Teilen der Europäischen Union (EU) sowie Südosteuropas augenblicklich erleben.
Umgang mit Kontingenz – eine bürgerliche Tugend?
Um mit diesen Unsicherheiten (Kontingenz) leben zu lernen, ist öffentliche Vernunft gefragt, die sich in unterschiedlichen Formen artikuliert. Sie äußert sich in Anerkennung und Mäßigung, wenn es darum geht, ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht über einen Kamm zu scheren. Sie zeigt sich als Urteilskraft in einem differenzierten Blick, wenn es gilt, Dinge auseinander zu halten, die nur auf den ersten Blick scheinbar etwas miteinander zu tun haben. Nur die wenigsten Korrelationen in der Gesellschaft stellen auch eine Kausalität dar. In den meisten Fällen haben sie nicht viel – außer ihrer Gleichzeitigkeit – gemein: Arbeitslosenquote und die Zahl der im Land lebenden Ausländer; Migrationswelle und steigende Kriminalitätsrate oder – auch nach München - Mediennutzung (Computerspiele) und Gewaltdelikte. Öffentliche Vernunft schließlich artikuliert sich aber vor allem in der „Gegenwart der Zukunft“, im Diskurs über die alle Lebensbereiche betreffende Frage: „wie müssen, können und wollen wir leben?“ (Beck)[4]
Becks Frage lässt sich pragmatisch beantworten, in dem nach den spezifischen Wechselwirkungen zwischen Bürgerlichkeit, vor allem in Form ihrer gesellschaftlichen Eliten, und Staatlichkeit zu suchen. Dabei geht es mindestens so sehr um individuelle Pflichten, die der Einzelne wahrzunehmen hat, wie es um persönliche Rechte geht, auf die zu pochen wir alle inzwischen gelernt haben. Öffentliche Vernunft thematisiert die zeitliche und räumliche Reichweite individueller Verantwortung, stellt die Frage nach der Begründbarkeit von Handlungen, sucht nach gerechtfertigten Verhaltensweisen, um dadurch einen Unterschied in der Qualität von Entscheidungen zu machen. Dieses eher prozessurale Verständnis von Vernunft setzt bei der persönlichen Lebensführung des Einzelnen an, nimmt sie ernst, aber bleibt skeptisch und weiß um die Widersprüchlichkeiten, die eine Gesellschaft bewegen.
„In einer Postdemokratie, in der immer mehr Macht an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und Macht (…).“ Crouch 2010, 11)
Es ist der Zweifel, der die Vernunft ehrt und von dem Demokratie lebt: Misstrauen ist die erste Bürgerpflicht. Als Citoyen müssen wir vieles bezweifeln, um so das Ganze umso mehr bejahen zu können. Wir können als Bürger unsere Macht steigern, wenn wir uns individuell die Hände binden. In einem solchen Verständnis ist dann auch Bürokratie zivilgesellschaftlich von Vorteil.
Da wir nicht wissen können, also zweifeln müssen, ob die Mehrheit Recht hat, tun wir gut daran, „die Chance der Minderheit, selbst Mehrheit zu werden“ offen zu halten und demokratisch zu gestalten (Kielmannsegg 2013). Prinzipielle Voraussetzungen dafür sind: Skeptizismus als pragmatische Erkenntnisform, um Paradoxien in den allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsstrukturen zu erkennen und ein - daraus resultierender politischer Ekklektizismus, der zu einem kritischen Denken „Critical Thinking“ führt, das Aufklärung als Projekt reflexiv weiterdenkt und immer wieder auf sich selbst bezieht. Das Nein zur eigenen Wahrnehmung zu denken, ist dem wesentlich.
Vielheit als Wert
Marquards sprachliches Wortspiel vom „Zugriffsgedrängels“ heißt in der philosophischen Begrifflichkeit „Dissensermöglichungspluralismus“ (Zimmerli 1993), und sieht in der Wertevielfalt keinen Relativismus, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung um tragbare Lösungen im kulturellen Miteinander und im demokratischen Ringen um die besten Ideen, um das Miteinander verantwortlich zu gestalten. Offene Gesellschaften nehmen unterschiedliche Denk- und Glaubensrichtungen, Kulturen und Weltanschauungen als Gewinn und Bereicherung wahr. Sie schätzen die Vielfalt der Lebensformen, auch wenn es nicht einfach ist, die übergreifende politische Klammer zu bilden. Vielheit als Wert zu erachten und den Willensbildungsprozess demokratisch zu gewährleisten, kennzeichnet offene Gesellschaften, die den Diskurs um Werte lebendig halten.
„Ein neues Bürgertum wird beschworen, eine neue Bürgerlichkeit postuliert.“[5] Verbirgt sich, so lautet abschließend die generelle Frage, hinter der bürgerlichen Idee ein ernstzunehmender Lebensentwurf, ein Ansatz zur Weiterentwicklung der Gegenwartsgesellschaft? Es braucht noch einen dritten Protagonisten, der uns alle, die wir Gesellschaft denken, begleitet, um den theoretisch-kritischen Erkenntnisbogen ganz aufzuspannen. Es ist eine Aussage Habermas zum wiedervereinigten Deutschland kurz nach der Wende, die aber auf nahezu alle westlichen Demokratien gegenwärtiger Prägung übertragen werden kann:
„Man weiß nicht Recht, ob sich in dieser Kulturgesellschaft nur die kommerziell und wahlstrategisch „missbrauchte Kraft des Schönen“, eine semantisch ausgelaugte, privatistische Massenkultur spiegelt – oder ob sie den Resonanzboden für eine revitalisierte Öffentlichkeit darstellen könnte, auf dem die Saat der Ideen von 1789 aufgeht!“ (Habermas 1992: 69)
Die übergreifende Idee liegt demnach in einer „zweiten Aufklärung“, die demokratische Gesellschaften zu benötigen scheinen, weil sich die naiven Fortschrittshoffnungen der ersten Moderne nicht bewahrheitet haben und sie der Ambivalenz politischen Handelns begegnen müssen. Das „Projekt der Moderne“ (Habermas) ist nicht vollendet, sondern braucht ein Mehr an neuer Bürgerlichkeit, im Sinne von informierter Mündigkeit, kritischer Haltung (z.B. zum Konsum) und gleichberechtigter Teilhabe an Gesellschaft sowie einem neuen Verständnis von Nachhaltigkeit als Handlungsleitlinie, um wieder alle Lebensbereiche des Einzelnen in der Gemeinschaft zu umfassen. Ähnlich differenziert, aber kritischer sieht das Nachtwey (2016).
In der regressiven Moderne gäbe es horizontal durchaus noch kulturelle Fortschritte, z.B. gleiche Rechte für unterschiedliche Lebensformen und auch mehr gesellschaftliche Toleranz für kulturelle Vielfalt. In der Vertikalen aber würde die soziale Ungleichheit zunehmen - und die Moderne sei als „Postwachstumsgesellschaft“ zunehmend „regressiv“.[6]
Selbstverständigung braucht Selbstdistanzierung
Beck hat diesen Prozess ‚reflexive Modernisierung‘ genannt. Ich spreche von erweiterten Selbstverständigungsdiskursen, die eine lebendige Zivilgesellschaft zu führen hat. Darin wird auch das Sittlich-Normative an „individueller Verantwortung“ sichtbar: Der Einzelne hat sich der Aufgabe, Bürger eines Staates zu sein, immer wieder neu zu stellen, damit sich Politik eben nicht in Marktkonformität (Habermas) auflöst. Je mehr er oder sie zu den Eliten eines Landes gehört, umso größer ist sie, diese Verantwortung, die stets den Ausgangspunkt für jede Form des Handelns darstellt.
Diese Verantwortung manifestiert sich in intelligenten Institutionen[7], die als Bürokratie im Subsidiaritätsprinzip in positivem Sinn von Personen und ihren Partikularinteressen absehen und auf Distanz gehen: Sie initiieren den Markt über Eigentumsrechte und Vertragsregeln, stabilisieren ihn in Form der Steuer- und Finanzpolitik und regulieren die Marktwirtschaft durch eine sozial und ökologisch ausgewogene Gesetzgebung. Darin drückt sich das Primat der Politik aus, das einer rein marktkonformen Demokratie widerspricht. Wenn wir die Machtfrage stets zugunsten der Bürgergesellschaft entscheiden, definieren wir zugleich, so Biedenkopf, ihren freiheitlichen Gehalt. Die Zivilgesellschaft wäre dann nicht nur der dritte Sektor, sondern – nachdem die Medien mehr und mehr als ‚vierte Gewalt‘ enttäuschen - neben Staat, Wirtschaft und Privatsphäre der „vierte Raum“ (Brandt 2016), in dem wir uns in der Polis bewegen.
Öffentliche Vernunft bringt sich neben den rechtsstaatlichen Prinzipien, der Gewaltenteilung und den Medien auch in den pluralistischen Wertvorstellungen und in einem auf Humanität angelegten Bildungsideal zum Ausdruck. Wissen als „lernbereite Erwartung“ kennzeichnet eine weitere Form von Vernunft. In dieser Form achtet sie auf Reversibilität und Fehlerfreundlichkeit in der Bewertung technologischer Innovationen, ganz in der Tradition des Nicht-Wissens von Hans Jonas. Schließlich artikuliert sie sich in dem lebendigen, aber gewaltfreien Widerstreit politischer Ideen und Meinungen als Diskursethik, die sich in ihrer Umsetzung – und das ist neu - der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt (im Sinne der „triple bottom line“ von J. Elkington 1997).
Offene Gesellschaften leben von diesen Selbstverständigungsdiskursen. Jeder von uns entscheidet über die Qualität der öffentlichen Vernunft mit, in dem er seiner individuellen Verantwortung versucht gerecht zu werden; d.h. genügend Distanz zu sich selbst aufzubringen, um nicht nur sich selbst zu sehen. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Diskurse nicht enden;
d.h. auch dieses Buch kann nur wieder einen weiteren Beitrag dazu leisten, uns über unsere Werte miteinander zu verständigen und die Bitte äußern, darin nicht nachzulassen, sondern eher noch die Bemühungen zu verstärken; denn sich ins Gespräch zu begeben und sich in Frage zu stellen ist ein guter Anfang. Und so ende ich mit einem Zitat von Richard Sennett, das unsere aktuelle Problematik als bürgerliche Gesellschaft im Umgang mit den geflüchteten Menschen auf den Punkt bringt, aber gleichzeitig zeigt, wie es gehen kann:
„Mangelnder Respekt mag zwar weniger aggressiv erscheinen als eine direkte Beleidigung, kann aber ebenso verletzend sein. Man wird nicht beleidigt, aber man wird auch nicht beachtet; man wird nicht als Mensch angesehen, der etwas zählt (…). Dies macht Respekt zu einem knappen Gut. (…) Respekt kostet nichts. Insofern stellt sich die Frage, warum auf diesem Gebiet Knappheit herrschen soll.“ (Sennett 2002:15)
Respekt, und dies durfte ich von Adolf Muschg lernen, ist immer auch ein Anfang von Kultur[8].
Fazit und Ausblick – ‚Macht auf Zeit, Verantwortung auf Dauer‘
Gemeinsame Lernfähigkeit wird somit zu einer der größten Tugenden bürgerlicher Gesellschaft. Sich durch die politische und kulturelle Aufklärung darüber zu verständigen, auf welch‘ kontingenten Entstehungsbedingungen Demokratien fußen[9] und welche zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten zur Wahl stehen, macht bewusst, wie fragil und unsicher die eigene politische Ordnung ist. Wie könnte die nächste Gesellschaft aussehen? Klar ist nur, dass eine allzu nervöse Selbstbeobachtung, in der Partikularinteressen den Ton angeben, nicht wirklich hilfreich ist, weil sie den Blick verstellt. Verengte Nabelschau führt selten zu abwägendem Urteilsvermögen und klugem Handeln. Die Vorläufigkeit in der Politik bezieht sich auf Macht, nicht auf die damit einhergehende und daraus resultierende Verantwortung. Urteilskraft zeigt sich dann auch darin, das Wesentliche und das Neue unterscheiden zu können und sich politisch der Frage „Wozu?“ zu stellen.
Der skeptische Bürger bleibt auf Distanz, zu öffentlichen Institutionen und Politik, zu neoliberaler Marktwirtschaft und Kapitalismus, zu Religionen und Ideologien – aber vor allem zu sich selbst. Diese Form von Selbstkritik, in der wir uns ernst, aber nicht zu wichtig nehmen, ist eine zu lernbereite Eigenschaft, die wir als Mensch und Bürger nicht genug pflegen können. Marquard[10] hat uns als „primäre Taugenichtse“ beschrieben:
sich deshalb selbst immer wieder in Zweifel zu ziehen, ist kein schlechter Anfang für eine ‚neue Bürgerlichkeit‘. Und eine gute Basis für eine lebendige Demokratie.
Literatur
Arenhövel, M.: Zivilgesellschaft – Bürgergesellschaft, Wochenschau II, Nr. 2, März/April 2000, S. 55–64.
Beck, U.: Risikogesellschaft, Frankfurt a.M., 1986
Ders.: Eigenes Leben, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29, 2001
Ders./Giddens, A./Lash, S.: Reflexive Modernisierung, Frankfurt a.M., 1996
Biedenkopf, K.: Sehnsucht nach Freiheit, in: www.handelsblatt.com/meinung vom 05.07.2013.
Böckenförde, W.: Die Entstehung des Staates …, 1967. Zit. nach M. Ingenfeld: Das Wagnis der Freiheit, Vortragsmanuskript 2009
Brandt, A.: Zivilgesellschaft in postdemokratischen Zeiten. In: Archiv für Niedersachsen 1 (2016)
Bude, H.: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, München 2016
Cohen, D.: Unsere modernen Zeiten. Wie der Mensch die Zukunft überholt, Frankfurt a.M. 2001
Crouch, C.: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2009
Elkington, J.: Cannibals with forks, London 1999
Habermas, J.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Frankfurt a.M. 1981
Ingenfeld, M.: Das Wagnis der Freiheit. Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, Redemanuskript 2009
Ismayr, W.: Der deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012
Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Eine Ethik für das technologische Zeitalter, Frankfurt a.M. 1979
Kielmansegg, P.: Die Grammatik der Freiheit, Baden-Baden 2013
Marquard, O.: Skepsis der Moderne, Stuttgart 2007
Ders.: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981
Nachtwey, O.: Die Abstiegsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2016
Plumpe, W.: Stichwort: Neue Bürgerlichkeit? Tragödie und Farce, in WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung Heft 1, 2009, S. 101-106
Sennett, R.: Respekt in Zeitalter der Ungleichheit, Frankfurt a.M. 2002
Wolf, S. / Marquering, P. (Hg.): Unkritische Massen?, Berlin 2016
Zimmerli, W. Ch.: Einmischungen, Darmstadt 1993
Ders.: Die Zukunft denkt anders. Wege aus dem Bildungsnotstand, Frauenfeld 2006
Ders./Wolf, S. (Hg.): Spurwechsel. Wirtschaft weiter denken, Hamburg 2006
[1] Vgl. hierzu Zimmerli/Wolf 2006. Sir Ralf Dahrendorf plädiert in seinem Vortrag, den er an der Volkswagen AutoUni gehalten hat, für ein gesellschaftliches Verantwortungsgefühl, insbesondere bei Eliten, das innerhalb bestimmter zeitlicher als auch räumlicher Reichweiten wahrgenommen wird, a.a.O. S. 171ff. Marquard nennt es „vorläufiges Denken“.
[2] ) Als Anmerkung sei erlaubt, dass es keiner rechtspopulistischen Bewegung in Europa, weder in der Schweiz, noch in Frankreich, Deutschland, Österreich oder den Niederlanden gelingt, auch nur ansatzweise das „Eigene“ zu definieren, außer im Rückgriff auf rassistische Ausgrenzungen, die sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht völlig beliebig, also kontingent, erscheinen. Auch den autokratischen Populisten in Russland, Ungarn und jetzt auch in der Türkei und Polen fehlt es zwar nicht an fremdenfeindlichen Parolen, aber an Argumenten.
[3] Vgl. hierzu Cohen 2001. Damit kennzeichnen die Sozialwissenschaften gesellschaftliche Situationen, in denen außerordentliche Aufbau- oder Integrationsleistungen gefordert sind und erbracht werden. Für eine bestimmte Phase wird nahezu alles den gemeinsamen Zielen untergeordnet, so z.B. in Deutschland nach dem II. Weltkrieg, in Frankreich Anfang der 60er Jahre, als viele Franzosen aus Nordafrika immigrierten. Auch die deutsche Wiedervereinigung 1990 kann als eine solche Situation betrachtet werden. Nun steht die EU vor einer ähnlichen Herausforderung und ist als bürgerliche Öffentlichkeit gefordert …
[4] ) Vgl. hierzu Beck „Die experimentelle Republik“ in: Süddeutsche Zeitung v. 13.11.1998. Zimmerli nennt die Frage selbst: „Welche Zukunft wollen wir?“, um Wünsche, Hoffnungen, aber auch Befürchtungen und Ängste, die mit Zukunft eng zusammen hängen, zur Sprache zu bringen.
[5] ) Vgl. hierzu Plumpe, Werner: Stichwort: neue Bürgerlichkeit? …, in: WestEnd, Heft 1 2009, 101.
[6] ) Vgl. hierzu Nachtwey 2016: Der Marktbürger, so resümiert er, sei im Grund kein Bürger mehr, sondern ein Kunde mit Rechten (Rückseite des Buches).
[7] ) Das sog. IvI-Gap thematisiert die Kluft zwischen Institutionen und Ideen. Natürlich sind wir uns darüber im Klaren, dass Institutionen ihre Macht missbrauchen können und alles andere als das Wohl und die Freiheit des Einzelnen im Blick haben. Auch hier gilt es klug zu agieren und von Institutionen immer wieder Transparenz zu fordern und politisch Kontrolle auszuüben.
[8] ) Adolf Muschg in seinem Vortrag zum Konzernwert „Respekt“ an der Volkswagen AutoUni 2005, abgedruckt in: Zimmerli/Wolf 2006, S. 249f.. Toleranz kann einfach nur Erlaubnis, im Sinne von Zulassen, bedeuten oder Koexistenz, also friedliches Nebeneinander. Sie kann aber auch Respekt und Wertschätzung meinen. Auch hier ist es wichtig zu unterscheiden, wovon wir sprechen, wenn wir von ‚Vielheit als Wert‘ reden.
[9] Vgl. hierzu das sog. Böckenförde-Theorem, wonach Demokratien die Fundamente, auf denen sie aufbauen, weder legitimieren noch gewährleisten können, sondern voraussetzen müssen.
[10] ) Dieser Text basiert auf der Einleitung, die ich für die Festschrift zum 75. Geburtstag meines Doktorvaters. Prof. Dr. Dr. h.c. Walther Ch. Zimmerli, verfasst habe und die unter dem Titel „Unkritische Massen?“ 2016 beim LIT-Verlag erschienen ist (Paul Marquering als Mitherausgeber). Marquard und Beck waren Weggefährten Zimmerlis, die beide auf den Bamberger Hegelwochen als Redner gesprochen haben. Das ist deshalb bemerkenswert, weil diese Veranstaltungsreihe, die Zimmerli 1990 ins Leben rief, Philosophie in die Stadtöffentlichkeit (als eine Form der Bürgerlichkeit) trug und zum öffentlichen Diskurs anregte. Beide Denker sind 2015 gestorben und konnten an der Festschrift nicht mitwirken. Auf diese Weise habe ich sie zumindest etwas zu Wort kommen lassen.
Auf diesem Weg sei auch noch Anna-Mitschka Dietrich, Wolfgang Ismayr und Arno Brandt gedankt, die sich die große Mühe gemacht haben, den Text kritisch zu lesen und mir mit vielen Hinweisen mehr als hilfreich zur Seite standen.